Die vierwöchigen Sondierungsgespräche und Balkonauftritte von CDU, CSU, FDP und Grüne sind mit einem Knall zu Ende gegangen. Angela Merkels Verhandlungsstrategie, des wochenlangen Schweigens nach außen, des verkämpfen lassen der anderen Parteien um dann in der Schlussphase die erzielten Zwischenergebnisse aufzusaugen und die ausgelaugten Koalitionspartner zusammen zu zwingen, ist gescheitert. Den Verhandlungsteilnehmer ist es in den vier Wochen nicht gelungen ein ausreichend festes Vertrauen als Basis für eine gemeinsame Regierungszeit aufzubauen. Dieses fehlende Grundvertrauen hat wohl Christian Lindner dazu bewogen die Reißleine zu ziehen und sich mit den Worten “ Besser nicht regieren als falsch zu regieren“ aus den Sondierungen um einvernehmliche Ziele zu verabschieden. Der ergebnislose Sondierungsausgang und das vierwöchige Ausloten von Parteipositionen haben dennoch beachtliche politische Veränderungen bewirkt.

  • CDU und CSU sind reflexartig in der Nacht des Scheiterns mit Blick auf möglichen Neuwahlen zusammengerückt. Für interne Machtkämpfe und Interessenunterschiede gibt es jetzt keinen Raum mehr.
  • CSU Chef Horst Seehofer bleibt angeschlagen auch wenn er aus parteitaktischen Gründen Angela Merkel in der Zeit der Not den Rücken stärkt und sie zur neuen Kanzlerkandidatin beglückwünscht. Die erlittenen  Wunden seit der Flüchtlingskrise 2015 und die  Machtkämpfe mit Angela Merkel verheilen nicht so schnell und erst gar nicht in Bayern, wo seine Nachfolgediskussion im vollen Gange ist.
  • Die Grünen haben ihre realpolitischen Positionen weiterentwickelt und erkannt, dass eine gehörige Portion Realpolitik nötig ist um an die Macht zu kommen.
  • CDU /CSU und Grüne sind sich dadurch in ihren Positionen näher gekommen und haben ein gewisses Vertrauen zueinander aufgebaut und damit eine Ausgangsbasis für künftige Koalitionen geschaffen.
  • Christian Lindner und die FDP werden die Last des Scheiterns der Verhandlungen tragen müssen, da alle anderen Parteien versuchen werden sich rein zu waschen. Inwieweit dies die Position der FDP schwächt bleibt abzuwarten.
  • Angela Merkel geht trotz der Niederlage in der Bundestagswahl (schlechtestes CDU Wahlergebnis) und der erneuten Niederlage als Verhandlungsführerin der Sondierungsgespräche zunächst gestärkt aus der Schlacht hervor. Wie seit Jahren profitiert sie von der Schwäche der Sozialdemokratischen Partei und fehlenden Machtpersönlichkeiten in ihrer eigenen Partei. Ihr Machtverlust hat dennoch begonnen.

Das Echo des Knalls wird noch eine Weile in den Parteien, den Medien und der Bevölkerung nachhallen. Es ist eine unbekannte Situation und gleichzeitig ein Neuanfang den Deutschland in dieser Form noch nicht erlebt hat. Wie immer bieten Neuanfänge auch Chancen verkrustete Strukturen aufzubrechen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bestimmt nun das weitere Vorgehen und hat bereits die Prioritäten gesetzt, Ausloten anderer Koalitionsmöglichkeiten zum Erhalt einer stabilen Regierung, Sondierung für eine Minderheitsregierung und schließlich Neuwahlen. Die Möglichkeiten sind große Koalition, Minderheitsregierung der CDU /CSU, der CDU /CSU und Grüne, der CDU / CSU und FDP jeweils mit und ohne Tolerierung durch andere Parteien. Im normalen Regierungsgeschäft gibt es mit einer Minderheitsregierung im Gegensatz zur Mehrheitsregierung keinen Unterschied. Bei der Gesetzgebung ist es wegen der notwendigen Kompromissfindung mit anderen Fraktionen schwieriger und bei aufkommenden parlamentarischen Spannungen ist die Wahrscheinlichkeit durch ein Misstrauensvotum gestürzt zu werden natürlich grösser. Den Nachteilen und dem mühsameren Regieren stehen aber auch parlamentarische Vorteile gegenüber und so gibt und gab es immer wieder Minderheitsregierungen, gerade in den skandinavischen Ländern Dänemark, Norwegen, Schweden, die stabil über viele Jahre ihre Länder regiert haben.

Aufgrund der gewachsenen gesellschaftspolitischen Spannungen in Deutschland, der zunehmenden Demokratieverdrossenheit der Bürger, des zurückgedrängten Parlamentarismus im Bundestag wäre es für die deutsche Demokratie gut nicht sofort wieder Neuwahlen anzusetzen sondern, sofern keine Mehrheitsregierung zustande kommt, mit einer Minderheitsregierung zu regieren, selbst auf die Gefahr hin, dass diese nur einige Jahre Bestand haben sollte. Der Demokratie, den Abgeordneten und den Bürgern würde es gut tun, wie die folgende Aufzählung der Vorteile einer Minderheitsregierung  zeigt:

  • Der Bundestag mit seinen 709 Abgeordneten und nunmehr sechs Fraktionen wird aufgewertet, der Parlamentarismus gestärkt und die Abgeordneten können sich als Vertreter des Volkes wieder entfalten, sie können ihre in Zeiten der großen Koalitionen verlorengegangene Bedeutung wiedergewinnen.
  • Die Parlamentsdebatten werden endlich mit Leben gefüllt, die Ritualisierung, der Fraktionszwang, die Ausgrenzung und der von vornherein bekannte Debattenausgang gehören der Vergangenheit an. Die politische Diskussion kann von den unzähligen Talk Shows wieder ins Parlamentsgebäude zurückkehren.
  • Die Regierung muss ihre Vorhaben offener und tiefergehend erörtern, muss sich mit den Vorschlägen der anderen Fraktionen intensiv auseinandersetzen und muss sich wechselnde Parlamentsmehrheiten suchen. Ein „immer weiter so“, oder „das ist alternativlos“, oder einsame nicht abgestimmte hart an der Gesetzesgrenze getroffene Entscheiden gehören damit der Vergangenheit an.
  • Konzeptvielfalt und Innovation im Bundestag nehmen zu, was zu besseren, näher an der Volksmeinung liegenden Ergebnissen führen wird und der geläufigen Politikverdrossenheit entgegenwirken würde.
  • Schnell würde für Parlamentarier und Bevölkerung erkennbar werden, welche Fraktion, welche Politiker nur mit heißer Luft agieren und das hätte wiederum Auswirkungen auf die nächste Wahl. Alle Fraktionen müssen beweisen, dass sie parlamentsfähig sind.
  • Kompromisse haben eine vielbreitere Basis, sie sind transparenter und leichter der Bevölkerung  zu vermitteln, da sie von einer großen Schnittmenge ihrer Volksvertreter, den Abgeordneten, verhandelt wurden.
  • Regierung, Parlament, Opposition und Bundesbürger gewinnen durch eine solche neue politische Kultur wertvolle neue Erfahrungen auf die nachfolgende Mehrheitsregierungen aufbauen könnten.

Die große Frage wird sein, ob die Parteien eine so offene parlamentarische Kultur bereits verinnerlicht haben um ein solches Experiment einzugehen. Angela Merkel mit ihrer sozialistisch verschlossenen Art, die lieber hinter als vor Türen verhandelt, lieber im kleinen Kreis als im Großen, lieber im Parteizirkel als im Parlament, die lieber moderiert und Ergebnisse aufsaugt und als die ihrigen verkauft als von Anfang an mit eigenen Ideen, Konzepten, Visionen aufzutreten, wird sich vermutlich gegen ein solches Ansinnen des Bundespräsidenten mit Händen und Füßen wehren. Hochachtung, wenn sie über ihren Schatten springen und eine solche Herausforderung annehmen würde. Neuwahlen und dann womöglich die nächste große Koalition wären für einen lebendigen Parlamentarismus abträglich und würden den linken und rechten Rändern weiter Auftrieb geben. Die Politik hat mit dieser neuen, unbekannten Situation eine schwierige Aufgabe zu meistern, lassen wir uns überraschen was sie daraus macht.